5.8.2020
In Goethes Gedicht Heidenröslein, vermutlich im Sommer 1771 in Straßburg entstanden (Goethe war 22 Jahre alt) wird oft die Verharmlosung einer Vergewaltigung gesehen. Goethe wird als Befürworter dieser Gewalttat gebrandmarkt oder diese sogar als Teil seiner Biografie vermutet.
Richtig ist, dass das Gedicht eine Vergewaltigung zum Gegenstand hat – aber nicht nur. Es ist gleichzeitig ein Mahngedicht, ein Appell, das Unrecht als solches zu bezeichnen und es nicht zu vergessen.
Wie kommen diese unterschiedlichen Sichtweisen zustande? Jedes gute Kunstwerk hat meist mehrere Ebenen. Die erste Ebene ist die wörtliche, die das natürliche Geschehen beschreibt. Die zweite lässt das bildliche Geschehen als grobe Untat der Vergewaltigung eines Mädchens deuten. Die dritte, für uns erst auf den zweiten - besser gesagt - dritten Blick erkennbare Ebene ist „Protokoll und Mahnung eines Unrechts“ (so der Germanist Mathias Meyer). Letzteres bewirken Titel und Struktur des Gedichts sowie die Äußerungen des Rösleins. Das Heidenröslein steht vor allem als Titel an erster Stelle. Geradezu mit pochender Wirkung wird als Refrain stets das Heidenröslein wiederholt. Es wird uns gleichsam hämmernd ins Gedächtnis gebracht. Es geht um die „Bewahrung dieses Leidens im Gedächtnis“ (Mathias Meyer). So spricht auch vorausschauend das Röslein: „Dass du ewig denkst an mich“. Der Leser nimmt im Gedicht die Perspektive des Opfers ein, nicht des Täters, der als „wilder Knabe“ bezeichnet wird. Zustimmung zur Tat wird nicht vermittelt, vielmehr Sympathie, Mitleid für das Opfer, das sich wehrt („Röslein wehrte sich und stach“).
Die Einschätzung, das Gedicht verharmlose die Tat, erscheint auf den ersten Blick nachvollziehbar, geriert es sich doch als Lied, gar Volkslied (Parallele zum aktuellen Fall des Donaulieds drängt sich hier auf) und wurde als „Lied“ von namhaften Komponisten vertont. Goethe hat jedoch das Gedicht nicht aus dem Nichts geschaffen, sondern hatte sich 1771 auf Veranlassung von Johann Gottfried Herder mit dem Sammeln von Volksdichtung und Volksliedern befasst. Bekannt ist eine volkstümliche Vorfassung (von Paul von der Aelst), die Goethe vermutlich kannte, als er das Heidenröslein schrieb. Offenbar hat ihn der Stoff nicht losgelassen und er wollte diesem seine eigene nicht aufdringliche Form geben. Es gilt, diese als Lyrik zu verstehen in unserer heutigen Welt, was uns nicht leicht fällt.
Grundlegend dazu die Erläuterungen von Mathias Mayer: Das Heidenröslein – Lyrik als Gedächtnis, in: ders., Natur und Reflexion – Studien zu Goethes Lyrik, Frankfurt a. M. 2009, S. 45ff.
Für diesen Hinweis danke ich sehr Herrn Prof. Dr. Reiner Wild, Heidelberg.