Die Weiße Rose und Goethe
Im ersten Flugblatt der Weißen Rose berufen sich Hans und Sopie Scholl sowie die anderen Mitglieder der Widerstandsgruppe auf Schiller und Goethe.
Neben einem schönen Schillertext zitieren sie von Goethe aus dem kurzen Festspiel "Des Epimenides Erwachen", welches Goethe aus Anlass des Abzugs Napoleons aus Russland 1814 auf Wunsch des damaligen Generaldirektors der Königlichen Schauspiele in Berlin, August Wilhelm Iffland, verfasst hatte.
In dieser von der Weißen Rose zitierten Szene aus dem 4. Auftritt des 2. Aufzugs agieren zusätzlich "Glaube", "Liebe" und "Hoffnung". Gegenspieler ist der "Dämon der Unterdrückung". Die "Genien" sind eigentlich römische Schutzgeister, die Goethe wohl hier als Allegorien von Kunst und Wissenschaft auftreten lässt. Die Kernszene richtet sich gegen Unterdrückung, heute würde man auch Diktatur sagen. Die Weiße Rose zog hier klare Parallelen zur Hitler-Diktatur. Die Hoffnung ist auch für Sophie Scholl (ihr 100. Geburtstag am 9.5.2021 ist Anlass für diesen ab jenem Datum befindlichen Abschnitt unserer Webseite) Antrieb ihrer Mühen. Gleichzeitig ist dies ein Einblick in die Freiheitsliebe Goethes.
Seite 2 (Faksimile) mit dem Auszug aus "Des Epimenides Erwachen".
Goethe ist nach anfänglichem Zögern dem epochalen Ereignis mit seiner Version eines antiken Stoffes begegnet. Wer diesen Text liest, versteht, warum die Weiße Rose diesen ausgewählt hat. Er ist die Verurteilung der Unterdrückung und die Feier der Freiheit und gibt jedem Hoffenden Halt durch die Figuren "Glaube, Liebe, Hoffnung", insbesondere durch die zentrale Gestalt der Hoffnung. Die Figur Epimenides gilt als Bezug auf Goethe selbst, weil Goethe sich nicht so aktiv für die patriotische Freiheitsbewegung gegen Napoleon eingesetzt hatte, wie viele andere.
In einem Brief Ifflands an Hofrat Kirms, Goethes rechte Hand bei der Leitung des Weimarer Theaters, vom 28.5.1814 heißt es:
"Seit langer Zeit, ... , habe ich keine solche reine, kindliche Freude empfunden als die war, welche mir geschenkt wurde, da ich den zusagenden liebevollen Brief des Herrn v. Goethe an Sie erhielt. Seit Luthers Reformation ist kein so hohes Werk, dünkt mich, geschehen, als die jetzige Befreiung von Deutschland. .... Es gibt keine höhere Feier als die, dass der erste Mann der Nation über diese hohe Begebenheit schreibt."
Goethes Festspiel-Text war zur Vertonung gedichtet. Diese übernahm der Komponist und Kapellmeister Bernhard Anselm Weber, Berlin.
Hier können Sie das Flugblatt als pdf-Datei herunterladen und lesen.