"Eine Perle, die immer ihren Glanz behält"
Ein einfaches kleines Abendlied. Schnell nieder geschrieben mit Bleistift an der Wand einer Jagdhütte an einem stillen Septemberabend vor ein paar Jahrhunderten. Warum ist das ein großes Gedicht mit ewigem Leben? Warum erfüllt es mich mit Frieden? Jeder, der auch nur das kleinste Gefühl für Poesie hat, versteht ohne Erklärung. Nie, so fühlt man, kann die Natur den Atem so angehalten haben wie an diesem Septemberabend in Ilmenau. Die Berge und Höhenzüge, die Bäume im Wald – alles gut, alles ist Stille und Friede.
Aber mein unruhiges Menschenherz – wie bekommt es Frieden und Ruhe? Verzweifle nicht, auch für das Menschenherz gibt es Ruhe und Trost in Goethes Gedicht: „Warte nur, bald in Ruhe bist du auch…“
Ich weiß, dass dies eines der Paradegedichte der deutschen Lyrik ist, das viele Menschen in allen Ländern und zu allen Zeiten geliebt haben. Aber das macht es für mich nicht weniger liebenswürdig. Das Gedicht kann nie verschlissen werden. Es ist und bleibt eine der reinsten Perlen unter allen Gedichten, eine Perle, die immer ihren Glanz behält.
(Aus: Westermanns Monatshefte, 2/1977, S. 32.)
Astrid Lindgren (1907-2002), berühmte schwedische Kinder- und Jugendbuchautorin (z. B. Pippi Langstrumpf)
Bild: Jagdhütte auf dem Ilmenauer Kickelhahn, in dessen Inneren Goethe das Gedicht am 6.9.1780 auf die Holzwand geschrieben hatte. Veröffentlicht 1815. Originalgetreuer Nachbau von 1874, da die Hütte 1870 durch Feuer zerstört wurde. . Foto: JB